Zusammen weniger allein sein

Gemeinsam mit der Mitteldeutschen Zeitung und dem Neuen Theater verleiht die Volksbank Halle den Bürgerpreis „Der Esel, der auf Rosen geht“. Sie zeichnen damit Initiativen aus, die eine besondere Bedeutung für Gemeinwohl, Integration sowie sozialen und kulturellen Zusammenhalt haben. Ein Preisträger war der Seniorenbesuchsdienst KlingelZeichen. Das Engagement begeisterte die Bank so sehr, dass sich mittlerweile ein reges Miteinander zwischen Initiative und Institut ergeben hat.

Zusammen weniger allein sein Halle

„Milch, Butter, Zucker“, schreibt Marlene Schneider auf, „Joghurt, Eier, Brot“, dann stoppt sie. „Das ist ja noch nicht so viel, Frau Hammer. Fehlt denn da nicht noch was?“, fragt die 21-Jährige, während sie ihren Kugelschreiber ein wenig in der Hand dreht. Brigitte Hammer streckt sich etwas, beugt sich zu der Studentin, die neben ihr auf der Bank sitzt. „Ach Marlene, vielleicht schreibst du noch ein paar Erdbeeren und Brombeeren auf, die essen wir doch immer so gerne.“ Die 87-Jährige schaut dabei durch ihre getönte Brille auf den Block, den Marlene Schneider in der Hand hält. „Ich kann das ja gar nicht mehr lesen“, sagt sie, „ich hoffe, du hast auch alles richtig aufgeschrieben“, und dabei lacht sie, weil sie genau weiß, dass sie sich auf die junge Frau verlassen kann.

Abwechslung für den Alltag

Das ungleiche Paar auf der Bank in Halle-Neustadt hat sich gesucht und gefunden, so scheint es. Brigitte Hammer lebt mit ihrem demenzkranken Mann in einer Senioren-WG in der Saale-Stadt, Marlene Schneider studiert dort Lebensmitteltechnik. Zusammengekommen sind sie durch den Seniorenbesuchsdienst KlingelZeichen der Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis e. V. Dieser sorgt seit mehr als zehn Jahren dafür, dass ältere Menschen bei manchen alltäglichen Tätigkeiten begleitet werden und vor allem nicht mehr allein sind. Mit der Gesellschaft kommt auch ein wenig Abwechslung in ihr Leben. „Marlene besucht mich einmal in der Woche“, sagt die Seniorin. „In der Wohngemeinschaft geht es vielen nicht mehr so gut und mein Mann ist jeden Tag in der Kurzzeitpflege, sodass ich manchmal wirklich Langeweile habe. Mit Marlene kann ich über so vieles reden, das macht mir große Freude.“

Auch der Studentin ist sofort anzumerken, dass sie ihr Engagement nicht als Job begreift, sondern dass es von Herzen kommt. „Ich finde es sehr spannend, weil ich ganz viel von Frau Hammer lerne – meine eigenen Erfahrungen reichen ja, wenn überhaupt, nur bis zur Jahrtausendwende zurück“, erzählt Marlene Schneider, die nach dem Abitur während ihres Freiwilligen Sozialen Jahres schon in einem Altersheim in Frankreich arbeitete. „Und ich finde es eben auch wichtig, ältere Menschen unterstützen zu können. Mir liegt das ein bisschen mehr, als mit Kindern zu arbeiten – und mir war immer schon klar, dass das Studium allein nicht alles sein kann.“ Sie wendet sich wieder Brigitte Hammer zu und schreibt weiter am Einkaufszettel. Kaffee soll darauf, Waschmittel und Fleckenspray. Marlene Schneider schaut noch einmal auf. „Am Ende profitieren ja beide Seiten, es ist so ein gegenseitiger Austausch, der uns beiden Freude bereitet.“

80 Tandems

Die beiden bilden eines von 80 sogenannten Tandems, die der Seniorenbesuchsdienst KlingelZeichen zusammengeführt hat. Dabei ist das gute Verhältnis zwischen ihnen keine Ausnahme, sondern eher die Regel. Dafür sorgt unter anderem Melanie Holtemöller, die als hauptamtliche Mitarbeiterin der Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis e. V. zusammen mit ihrem Team das KlingelZeichen betreut. „Wir haben 100 Ehrenamtliche in unserer Datei und auch ungefähr 100 Menschen, die jemanden suchen – aber es muss immer auch regional oder persönlich passen.“ Nur so funktioniert das Projekt, sagt sie.

Entstanden ist es aus einer ehrenamtlichen Initiative. „Einige Senioren haben sich regelmäßig getroffen und irgendwann gemerkt, dass einzelne Teilnehmer nicht mehr gekommen sind. Sie haben dann nachgefragt und festgestellt, dass es gesundheitliche Beeinträchtigungen gab.“ Den Aktiven wurde klar, dass manche von ihnen allein zu Hause bleiben würden, deswegen beschlossen sie, diese Menschen reihum zu besuchen. „Die Gruppe hat dann festgestellt, dass der Bedarf noch viel größer ist und über die Freiwilligen-Agentur weitere Mitstreiter gesucht.“ Aus den Ruheständlern wurde der Seniorenbesuchsdienst KlingelZeichen, in dem sich heute zunehmend auch Berufstätige und Studenten engagieren und für ältere Menschen da sind – der Altersschnitt der Besuchten liegt bei 82 Jahren, viele sind über 90.

Ganz früh dabei waren auch Christa Schirmer und Dorothee Kleemann, die heute als ehrenamtliche Koordinatorinnen für das KlingelZeichen tätig sind und die Paare zusammenbringen. „Es gibt einfach so viele Menschen, die einsam sind und jemanden brauchen, der sie besucht“, sagt Dorothee Kleemann, die bei der Freiwilligen-Agentur auch andere Menschen befähigt, eigene Projekte zu starten. „Und wir bringen die Tandems zusammen, was ohne Menschenkenntnis nicht funktionieren würde“, ergänzt Christa Schirmer. Gemeinsam mit Gabriele Böhme und stellvertretend für das gesamte Team bekamen die beiden Frauen für ihr Engagement den Bürgerpreis „Der Esel, der auf Rosen geht“, den die Volksbank Halle (Saale) gemeinsam mit der Mitteldeutschen Zeitung und dem Neuen Theater verleiht.

Volksbank Halle ist mehrjähriger Pate

„Wir geben Bürgerinnen und Bürgern aus der Stadt Halle und dem Saalekreis, die sich gesellschaftlich ganz besonders engagieren, einmal im Jahr eine Bühne und ehren das, was sie tun“, sagt der Vorstandsvorsitzende der Volksbank Halle (Saale), Sascha Gläßer. Dabei fiel die Wahl auch auf den Seniorenbesuchsdienst KlingelZeichen. Dieser greife ein Thema auf, das immer wichtiger werde: „Die Gesellschaft verändert sich. Wir haben nicht mehr das, was Familien früher auszeichnete, nämlich das Zusammenleben mehrerer Generationen“, sagt Gläßer. „Im Alter spielt Einsamkeit aber eine große Rolle. Und da ist uns der Seniorenbesuchsdienst besonders aufgefallen, der eben hier entgegenwirkt.“

Für die Volksbank Halle (Saale) passt ein Projekt wie der Seniorenbesuchsdienst KlingelZeichen hervorragend zur DNA des genossenschaftlichen Instituts, wie Sascha Gläßer sagt. Deshalb habe man auch nach der Ehrung für ein weiteres Jahr die Patenschaft für ihn übernommen und gemeinsam weitere Aktivitäten und Projekte gefördert und auf den Weg gebracht. „Die Hilfe zur Selbsthilfe kennzeichnet uns, und da liegt es natürlich nahe, dass wir gesellschaftliches Engagement unterstützen. Das machen wir gern und für viele verschiedene Vereine.“ Mit dem Bürgerpreis „Der Esel, der auf Rosen geht“ werden einmal jährlich die Projekte und Initiativen ausgezeichnet, die eine ganz besondere Bedeutung für das Gemeinwohl, die Integration und den sozialen und kulturellen Zusammenhalt in der Gesellschaft haben. Der Bürgerpreis setzt sich dabei aus fünf Preisen zusammen: drei Bürgerpreisen, einem Jurypreis und einem Preis der Initiatoren. Die Vorschläge für den Bürgerpreis und den Jurypreis kommen aus der Bevölkerung und werden von einer Jury ausgewählt.

Der Preis der Initiatoren wird von diesen auch selbst bestimmt. Ihn bekommen Persönlichkeiten, die aus Halle stammen oder sich um Halle besonders verdient gemacht haben. Preisträger waren zum Beispiel im Jahr 2003 der Schriftsteller Günter Grass, der die Bundeskulturstiftung nach Halle geholt hat, im Jahr 2013 der Schauspieler, Regisseur und Theaterintendant Peter Sodann, der das Neue Theater aufgebaut hat, und im Jahr 2017 posthum der ehemalige und langjährige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, der sich als gebürtiger Hallenser nach der Wende in der Stadt engagiert hat.

Vielseitige Unterstützung

Zurück zum Seniorenbesuchsdienst, deren Ehrenamtliche die Besuche bei den älteren Menschen kostenfrei anbieten – die Stelle von Melanie Holtemöller wird von der Stadt Halle (Saale) finanziert. Aber ein Projekt wie KlingelZeichen benötigt immer auch Hilfe. „Die Volksbank unterstützt uns in ganz vielen Dingen und nicht ausschließlich mit Geld“, sagt Melanie Holtemöller. „Sie begleitet uns, liefert uns Ideen, wie man das Ehrenamt besser anerkennen kann, plant mit uns Veranstaltungen und hilft uns bei der Organisation.“ Dazu gehört zum Beispiel auch, einen Raum für die gemeinsame Weihnachtsfeier mit den Engagierten und den Seniorinnen und Senioren zu stellen.

Für die ist das ein kleiner Bonus, denn sie geben sehr viel, machen das aber auch gern, sagt auch Julian Leonhard. Er kommt aus Rheinland-Pfalz, studiert seit dem Wintersemester 2019 in Halle und wollte sich wie schon in seiner Jugend – da war er vor allem im Sportverein mit Jüngeren aktiv – weiter engagieren. „Ich habe sehr viel mit Kindern gearbeitet und wollte nun gerne auch einmal etwas mit Älteren machen“, erzählt er. Seine Mutter hatte dann einen Fernsehbeitrag zum KlingelZeichen gesehen, was ihn auf das Projekt aufmerksam machte. Julian Leonhard startete mit einer Kulturpatenschaft, bei der man mit Senioren auf Kulturveranstaltungen geht, sie auf dem Hin- und Rückweg begleitet und auch über das Erlebte redet. „Weil es wegen Corona dann plötzlich keine Veranstaltungen mehr gab, habe ich mich direkt mit meiner Seniorenpartnerin immer wieder einfach so getroffen. Seitdem bin ich immer sonntags um 14.30 Uhr da, und wir reden, gehen spazieren oder kochen zusammen.“

Für Melanie Holtemöller ist das der Idealzustand. „Wir betrachten die Ehrenamtlichen als Zeitschenker, weil sie ja eben keine Dienstleister sind. Sie gehen also nicht für die Nutzer einkaufen, sondern allenfalls mit ihnen gemeinsam“, macht sie das Prinzip klar. „Sie sind also im Grunde Gesellschafter oder Freunde und tun nur Dinge, die ihnen gemeinsam Spaß machen – deswegen bleiben die Tandems bestimmt auch so lange zusammen und sorgen für den Erfolg von KlingelZeichen.“